15 Jahre Reinschnuppern
Ein Interview mit Gerlinde Gillmeister
In der Mitte ihres Studiums, also etwa im 5. Semester, absolvieren alle, die in an der Friedrich-Schiller-Universität Jena Lehramtsfächer studieren, ein einsemestriges Praktikum an einer Schule. In dieser Zeit lernen sie den Lehrerberuf und die Schulwirklichkeit genauer kennen und können sich ein eigenes Bild machen. Die Studierenden gewinnen Sicherheit im Umgang mit Schülerinnen und Schülern, sollen Lerndiagnose- und Beratungskompetenzen erwerben und – so jedenfalls die Formulierung des Zentrums für Lehrerbildung und Bildungsforschung – entwickeln ein berufsethisches Konzept für unterrichtliche und außerunterrichtliche Situationen. Im Praxissemester werden Anteile der Universität und der Schule miteinander kombiniert. Das Zentrum für Lehrerbildung der Universität veranstaltet eine Vorbereitungswoche mit dem Thema „Einführung in die Schulwirklichkeit“, für die 10 Leistungspunkte vergeben werden. Während des Praxissemesters werden in wöchentlichen Begleitveranstaltungen drei weitere Module mit insgesamt 20 Leistungspunkten absolviert. Die Erziehungswissenschaft gestaltet das Seminar „Diagnostizieren-Beraten-Innovieren- Evaluieren“ (10 Leistungspunkte). Die beiden fachdidaktischen Veranstaltungen heißen „Unterrichten und Erziehen“ (jeweils 5 Leistungspunkte) und werden in der Regel von Lehrerinnen und Lehrern, die an die Universität abgeordnet sind, für die Studierenden eines Fachs angeboten. Am Ende steht eine Nachbereitungswoche aller Praxissemestermodule zur Auswertung der gesammelten Erfahrungen. Die Noten der Erziehungswissenschaft und der Fachdidaktik fließen anteilig in die Note des Staatsexamens ein. Die Zeit an der Schule gliedert sich laut der Ordnung in eine Einführungsphase (ca. 6 Wochen), eine Unterrichtsphase (ca. 8 Wochen) und eine Projektphase (ca. 6 Wochen). Dabei werden die Studierenden an den Schulen von Fachlehrern begleitet und betreut. In der Unterrichtsphase unterrichten sie pro Fach in 20 bis 40 Schulstunden selbst. In der Projektphase sollen sie in den Schwerpunkten „Diagnostizieren-Fördern-Beurteilen“ und „Evaluieren-Innovieren“ im Sinne eines forschenden Lernens Aufgaben übernehmen, die im Interesse der Praktikums-schule liegen und von ihr mit definiert werden.
So weit ein Blick in die Ordnungen der Friedrich-Schiller-Universität. Die Modulordnung für das Fach Latein stammt aus dem Jahr 2007. Nach 15 Jahren ist es Zeit, einmal zurückzublicken und danach zu fragen, wie die Einführung des Praxissemesters das Studium verändert hat und welchen Beitrag es leistet. Jemand, der das wissen muss, ist Gerlinde Gillmeister. Sie ist Lateinlehrerin am Angergymnasium Jena und lehrt an der Friedrich-Schiller-Universität, wo sie für die Begleitseminare im Fach Latein verantwortlich ist. Gerlinde Gillmeister kennt daher das Praxissemester aus zwei Perspektiven: als Mentorin am Jenaer Angergymnasium und als Dozentin an der Universität.
Das Interview mit Gerlinde Gillmeister wurde im Januar 2022 geführt; die Fragen stellte R. Kirchner.
Wie bewerten Sie die Einführung des Praxissemesters im Rückblick auf die letzten 15 Jahre?
Das Praxissemester ist die beste Erfindung der Uni seit langem – zumindest für die Studierenden im Lehramt. Das merken wir immer wieder am Ende des Begleitseminars, wenn in einer Feedbackrunde ungeschminkt gefragt wird: Wollen Sie noch Lehrer werden? Ohne die echten Erfahrungen, die man im Praxissemester macht, könnte man keine trag-fähige Antwort auf diese Frage geben, die ja für jeden sehr wichtig ist. Die allermeisten antworten übrigens mit Ja, und ich staune immer wieder über die vielfältigen Schlagworte in unseren Feedbackrunden zum Lehrerbild wie z.B.: „strukturiert und flexibel“, „motiviert und fachbegeistert“, „mit den Schülerinnen und Schülern in einem Boot – trotzdem durchsetzungsfähig“, „offen und konsequent“, „mit liebevoller Strenge in der Pädagogik und mit fachlicher Strenge“, „Ja – Lehrer und Lerner“.
Was ist der wichtigste Beitrag des Praxissemesters für das Lehramtsstudium?
Das ist die Praxis aus erster Hand – die kann die Uni alleine nicht geben. Es geht dabei zunächst um die Möglichkeit, sich auszuprobieren und herauszufinden, ob das Lehramt zu einem passt. Die Studierenden sind oft ein bisschen überrascht, wenn sie feststellen, dass es besser läuft als erwartet, und das kann wiederum für das weitere Studium sehr motivieren und das nötige Selbstvertrauen schaffen. Es darf ruhig eine produktive Rückkopplung zwischen der Schule und dem Begleitseminar geben: was man im Schulalltag frisch aus-probiert hat, lässt sich im Seminar besprechen und auswerten. Als Seminarleiterin verspüre ich den positiven Druck, neue Entwicklungen und neue Theorien zu sehen, mit der Praxis zu verbinden und in ihr zu testen.
In Ihren Seminaren vermitteln Sie fachdidaktische Inhalte aus schulpraktischer Perspektive. Welche Punkte sind Ihnen dabei besonders wichtig für das Gelingen des Praxissemesters und des gesamten Studiums?
Ich möchte den Studierenden vermitteln, dass eine Schulstunde ein Ganzes sein sollte und einen roten Faden braucht. Da sind auf der einen Seite die fachlichen Grundlagen wie der Wortschatz, die Grammatik und der Text. Auf der anderen Seite stehen der Aufbau einer Stunde, ihre Dynamik, die vielfältigen Interaktionsformen. Wie man beim Bau eines Hauses Steine und Mörtel zusammenfügt, braucht man auch beim Planen einer Schulstunde die Inhalte und das, was die Inhalte in eine Form bringt, zusammenhält und für uns erst nützlich macht. Die Studierenden können im Praxissemester und auf ihrem weiteren Weg lernen, wie man eine solche Stunde gestaltet. Dazu ist es auch wichtig, etwas über die Zugewandtheit zwischen Lehrern und Schülern zu lernen und sich in eine Schülerpersönlichkeit hineinversetzen zu können – es geht um Respekt, durchaus auch mit der nötigen Distanz. Die Königsdisziplin im Lateinunterricht ist für mich die Textarbeit, weil hier vielfältige und komplexe Anforderungen einfließen. Eine Vokabelstunde, eine Übungsstunde und Grammatikerarbeitung sind gut und nützlich, dürfen aber keinen Vorwand liefern, sich vor der Textarbeit zu drücken. Für mich ist die Texterschließung ein ganz zentraler Punkt des Lateinunterrichts: ich bin eine Textbeobachterin und möchte das in meinem Unterricht vermitteln. Guter Unterricht heißt für mich, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, Texte zu beobachten; die Rolle des Lehrers ist, diese Beobachtungen zu fördern, zu begleiten und produktiv anzuleiten. Dabei erlebe ich auch Übungen in der eigenen Geduld: als ich meine Klasse neulich fragte, welche Bedeutung die Begriffe negotium und otium im Brief 1,9 des Plinius spielten, herrschte großes Schweigen. Hinterher sagte mir meine Referendarin, dass ich mit meinem Lehrervortrag ein bisschen länger hätte warten können; dann wären aus der Klasse Antworten gekommen.
Wie gut funktioniert der Einblick in die Schulwirklichkeit? Wie erleben Sie die Entwicklung der Studierenden im Praxissemester hinsichtlich ihrer Motivation für den Lehrerberuf?
Die Studierenden lernen im Praxissemester viele Seiten des Schulalltags kennen; sie nehmen an Dienstberatungen teil, dürfen unter Umständen bei Gesprächen mit Eltern dabei sein, lernen die Atmosphäre im Lehrerzimmer und den Umgang mit den Kollegen kennen; je nach Interessen und Möglichkeiten können sie AGs leiten, an Exkursionen und Wandertagen teilnehmen. Ich rate auch immer dazu, möglichst häufig und auch nicht nur in den eigenen Fächern zu hospitieren, um unterschiedliche Lehrerpersönlichkeiten und pädagogische und fachdidaktische Repertoires kennenzulernen. Sehr wichtige Punkte sind auch der Umgang mit Kritik und die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung. Eine Feedbackkultur ist nicht selbstverständlich und lernt sich nicht von alleine; besonders großer Mut gehört manchmal dazu, sich von den Klassen Rückmeldungen zum eigenen Unterricht zu holen. Auf jeden Fall gibt es den großen Wunsch der Studierenden, eigene Erfahrungen in der Schule zu machen; angesichts der kurzen Zeit des Praxissemesters dürfen die Erwartungen daran allerdings nicht zu hoch sein; hier muss ich manchmal auch etwas bremsen und zu großen Ehrgeiz eingrenzen. Am Ende des Praxissemesters werden die Studierenden dann gefragt, wie sie die Schule als Institution sehen. Dabei wird oft eine starke und positive Bindung an die jeweilige Praktikums-schule sichtbar.
Wie gut sind die Studierenden ausgebildet, wenn sie ihr Praxissemester antreten? Wo sehen Sie Nachholbedarf? Was würden Sie verändern?
Ich wünsche mir, dass die Voraussetzungen für die Textarbeit, wie wir sie in der Schule und im Seminar praktizieren, weiter entwickelt wären. Manchmal fehlt hier die einfach die Basis, und man hat den Eindruck, dass die Studierenden zwar mit einzelnen Methoden wie dem Konstruieren oder visualisierenden Satzanalysen vertraut sind, ihnen aber der Blick fürs Ganze, sprich für die ganzheitliche Textarbeit – literarisch und sprachlich – fehlt. Mir ist das zu viel Bastelarbeit am Einzelnen und zu wenig Synthese. Neue Impulse und Trends aus der Fachdidaktik sind dabei immer willkommen, ihre Vermittlung schon zu Beginn des Studiums ist für das Gelingen des Praxissemesters sehr wichtig. Ich denke, dass die Studierenden viele theoretische Grundlagen durchaus kennen, aber nicht wissen, wo deren praktischer Nutzen liegt. Hier müssen sie, wie man so schön sagt, besser abgeholt werden. Im Praxissemester wird ihnen häufig auch bewusst, welche Autoren im Schulunterricht gerne und mit Erfolg gelesen werden. Daher wäre es aus meiner Sicht schön, wenn im Hauptstudium besonders Martial, Plinius, Quintilian und Seneca noch stärker beachtet werden. Ich würde insgesamt sagen, dass die Übergänge Schule – Universität – Schule noch viel weicher gestaltet werden müssen. Das geht nur durch Austausch und Zusammenarbeit.
Gibt es auch einen Gewinn für die Schulen? Was geben die Studierenden den Schulen? Oder ist die sehr zeitaufwändige Betreuung im Schulalltag eher eine Last?
Der Gewinn für die Schulen ergibt sich dort, wo Lehrende offen und auf-geschlossen sind. Man kommt als Lehrperson aus dem Alltagstrott heraus, wenn die Studierenden hospitieren und man wieder einmal frischen Eifer an den Tag legen muss. Davon haben auch die Schülerinnen und Schüler etwas. Mit den Studierenden kann man außerdem fachsimpeln, und sie stellen Fragen, die interessant sind und die eigene Perspektive erweitern. Her mit den jungen Leuten, sage ich also. Im Alltag ist es natürlich alles eine Frage der Zeit, der Ressourcen und ihrer Einteilung. Es kann passieren, dass ich eine Klasse z.B. vor einer Arbeit wieder gerne für meinen Unterricht hätte; wenn die Übungsstunden dann anders organisiert werden müssen, haben die Studierenden damit meist kein Problem.
Seit der Einführung des Praxissemesters ist die Dauer des Referendariats verkürzt. Sie sind in beiden Phasen als Ausbilderin tätig. Wie bewerten Sie diese Struktur mit dem kürzeren Referendariat?
Kürzere Referendariate sind aus meiner Sicht nicht das Problem. Das liegt ganz woanders, nämlich im eigenverantwortlichen Unterricht. Wenn Referendarinnen und Referendare viel zu früh oder sogar sofort für eigenverantwortlichen und unbeobachteten Unterricht eingesetzt werden, fehlen Beratung, Feedback, Evaluierungen und der Austausch von Erfahrungen. Darunter leidet dann die Ausbildung. Die Referendare gleichen viel zu oft den Lehrermangel aus. Dass dieses Problem noch nicht gelöst ist, ärgert mich und macht mich wütend. Der eigenverantwortliche Unterricht sollte dringend reduziert werden; aber das ist in Thüringen ein altes Lied und den Verantwortlichen als Problem bekannt.
Wo sehen sie die Zukunft des Praxissemesters? Denken Sie, dass der Anteil der Fachausbildung zugunsten anderer Kompetenzen (wie z.B. auf dem Gebiet der Inklusion oder der Digitalisierung) zurückgehen wird?
Die Ausbildung und ihre Inhalte und Techniken, wie wir sie im Jenaer Modell haben, müssen bestehen bleiben. Die Persönlichkeiten der Menschen ändern sich ja nicht. Digitalisierung ist eine Hilfe und ein Werkzeug und darf als solches die Menschen nicht beherrschen. Daher müssen die neuen Mittel für die bewährten Ziele da sein und nicht umgekehrt. Heute sind Smartboards, Präsentationen, Lernplattformen und das Internet selbstverständliche Bestandteile des Schullebens, die wir nicht missen möchten. Skeptisch bin ich, ehrlich gesagt, beim Einsatz von Tablets. Wenn jeder in sein Gerät vertieft ist, ist das nicht gut für das gemeinsame Lernen und Arbeiten. Da entsteht eine Barriere im Klassenraum, eine Klippe, nennen wir es so. Das ist aber nur meine Meinung, und ich bin bei Tablets einfach noch ein bisschen zögerlich.
Vielen Dank für das Gespräch!